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Georg Scherg - PIRANDA
Die Welt, die Georg Scherg in seinen Büchern
entstehen läßt, ist eine postmoderne Welt ohne Mittelpunkt und ohne Ich. Im Vordergrund
der anthologisch wirkenden Romane befinden sich lose
aneinandergereihte Bilder und Metaphern: Natur, Geheimnis und Unbehaustheit sind die drei
Aspekte eines künstlerischen Werdegangs, und ihre Summe ist in der poetisierten Gestalt
der Zigeunerin Piranda enthalten.
Anfang 1983 begann Georg Scherg mit der Niederschrift des »Piranda"-Zyklus, ein
lyrisches Werk, das in sich selbst abgeschlossen ist und als
Schlüssel zum gesamten Schaffen des Autors betrachtet werden kann. Seit 1989/90 galten
zehn durch den Lyriker und Essayisten Mircea Ivãnescu ins Rumänische übersetzte
»Piranda"-Gedichte als verschollen. Erst 1998 tauchten Fragmente davon (in einer
diskutablen, ja missverständlichen rumänischen Fassung) wieder auf. Georg Scherg, der in
der Musik und in der Malerei fast genauso zu Hause ist wie in der Literatur, hat versucht,
ähnlich wie seinerzeit die Romantiker, ein komplettes Kunstwerk zu schaffen: Der
Gedichtzyklus wurzelt rhythmisch und vom Aufbau her im Tanz und in der Musik, Scherg
schrieb (oder malte) die Gedichte in einer an mittelalterliche Klostermanuskripte
erinnernden Schrift unter Verwendung roter, blauer und gelber Farbe auf zirka 41 x 25
Zentimeter großes Büttenpapier, das aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammt,
und die Texte beinhalten gedanklich alles, was der Autor in rund 60 Jahren auf Tausenden
von Seiten in seinem Gesamtwerk formuliert hat.
Georg Scherg hat sich über Jahre hinweg gewünscht, dass seine faksimilierten
"Piranda"-Texte als Kunstdruck erscheinen. Möglich wurde es erst jetzt, nach
seinem Tod. Diese Synthese seines Gesamtwerks bleibt in einer "Beinahe-Oralität: In
den "Piranda"-Texten gibt es Zusammenhänge, die über die Gestalt der
Zigeunerin hinaus auf das Gesamtwerk deuten.
Unstet und unbehaust ist die Zigeunerin Piranda, wie das Leben des Dichters und
Schriftstellers Georg Scherg. Formell betrachtet haben die 35 "Piranda"-Gedichte
ihren Ursprung im Tanz - in der rumänischen "Doina" oder "Hora", in
der "Învârtita". Über die rumänischen Rhythmen und Tänze, auf die sich der
"Piranda"-Zyklus stützt, schreibt Georg Scherg: Die Landschaft der Karpaten,
das Leben in der Natur und im Wandel der Jahreszeiten prägten die Ausdrucksformen [der
Rumänen] vom Hausbau bis zu den Dingen ihres täglichen Gebrauchs – nicht zu reden von
denen des geistigen Lebens und Empfindens, von den Künsten als Bereich ästhetischer
Bedürfnisse. Gegenüber der Weite dieser Landschaft und vor der überwältigenden Größe
von Gebirgsstöcken und -kämmen findet das Gefühl der Einsamkeit,
wenn nicht gar der menschlichen Verlorenheit, in der Musik seinen nur allzu oft
meditativen Ausdruck. Besinnlichkeit, Schwermut, Sehnsucht – um nicht Melancholie zu
sagen – sind konstitutive Elemente ihrer Hirtenlieder, die in der "Doina" mit
ihrer dem Inhalt angemessenen Form eine spezifische Gattung entwickelt haben. (...) Der
Solist hat die Möglichkeit, bestimmte Töne auszuhalten, zu retardieren und lang
hinauszuziehen. Das führt dazu, dass dieselbe "Doina" immer wieder anders
gesungen oder gespielt wird.
Dass es zu dem neuen Buch, das die kalligraphierten Manuskripte fast 1 : 1 wiedergibt,
auch eine CD gibt, auf der der Autor seine "Piranda"-Texte vorträgt, ist ein
glücklicher Zufall: Die Texte wurzeln in einer mündlichen Tradition, und der sprach- und
wortgewandte Dichter erschließt dem Zuhörer bei seinem Vortrag neue, nie geahnte
Zusammenhänge und Bezüge.
Gert Ungureanu
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